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Als sich am 25. November 2020 der Todestag des japanischen Schriftstellers Yukio Mishima zum fünfzigsten Mal jährte, legte ich eine Liste all jener Berühmtheiten an, die von seiner Persönlichkeit und seinem Werk fasziniert waren, darunter David Bowie. Auf seinem Album „The Next Day“ (2013) erwähnt er ihn im Track „Heat“ namentlich: „Then we saw Mishima’s dog / Trapped between the rocks / Blocking the waterfall“. Bowie rekurriert in diesen ersten Zeilen seines Songs auf eine Szene aus Mishimas 1969 veröffentlichten Roman „Schnee im Frühling“: Der Kadaver eines schwarzen Hundes klemmt im Felsbett eines Wasserfalls fest, das Wasser staut sich auf – ein unheilvolles Vorzeichen für alles, was in der Handlung folgen wird. Schon 1979 sprach Bowie während eines Japan-Besuchs im New Music Magazine mit Ryuichi Sakamoto über diese Szene:
In Yukio Mishima’s novel [Spring Snow], the protagonist walked through a garden and noticed that the waterfall was not flowing. Upon closer observation, he found there was a dead dog stuck at the top of the waterfall. This, I think, is the best metaphor for the concept of “the world.” Many of my works carry that feeling, too. (1)
Mishimas böses Omen wird bei Bowie zur Allegorie auf die Welt, ohne dass dieses Bild weiter vertieft wird. Als Bowie 2013 „Heat“ veröffentlichte, war Yukio Mishima längst zu einer Leitfigur der internationalen Neuen Rechten avanciert. Der weltberühmte Autor, zugleich Regisseur und Schauspieler, gründete 1968 die paramilitärische „Tatenokai“ („Gesellschaft des Schildes“), die eine Rückkehr zu einem sakral überhöhten Kaiserreich forderte. Am 25. November 1970 stürmte Mishima mit einer Handvoll Kadetten das Hauptquartier der japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte in Tokio, um die Truppe zu einem Staatsstreich zu bewegen – der Plan scheiterte. Daraufhin beging Mishima rituellen Suizid (Seppuku); sein Adjutant und mutmaßlicher Geliebter, Masakatsu Morita, folgte ihm in den Tod.(2) Manche vermuten, der Suizid von Mishima und Morita folge einem kulturellen Skript, für das es im Japanischen einen eigenen Begriff gibt: shinjū.(3) Rechtsextreme Kreise von den Vereinigten Staaten bis Russland stören sich keineswegs an Mishimas offen homoerotischem Lebensstil – trotz seiner Rolle als verheirateten Schriftsteller und Vater. Sie feiern den gemeinsamen Freitod der zwei Liebenden als Symbol einer ästhetisierten, selbstgewählten Märtyrerschaft im Dienste ultra-nationalistischer Ideologie.
Die Verehrung eines politisch motivierten Suizids nehmen bisweilen paradoxe Züge an. Am 21. Mai 2013 erschoss sich Dominique Venner – ein rechtsextremer Historiker, traditionalistischer Katholik und überzeugter Faschist – vor dem Altar der Pariser Kathedrale Notre-Dame in Gegenwart zahlreicher Besucher*innen. Venner wollte so gegen das Inkrafttreten des Gesetzes zur gleichgeschlechtlichen Ehe in Frankreich protestieren. Venners Verleger, Pierre-Guillaume de Roux, beeilt sich, zu erklären, dass sein Klient den eigenen Tod in einen größeren kulturellen Dienst gestellt habe – und vergleicht die Tragweite der politischen Botschaft mit Mishimas rituellem Suizid.(4) Also: Ein katholischer Faschist verehrt einen schwulen Autor so sehr, dass er sich an dessen („romantischem“) Doppelsuizid ein Beispiel nimmt, um so gegen die „Schwulenehe“ ein Zeichen zu setzen …
Vor diesem Hintergrund stellt sich unweigerlich die Frage, wie David Bowies anhaltende Faszination für Mishima einzuordnen ist. Bowie war kein Anhänger der Neuen Rechten, die Mishima zur global zirkulierenden Ikone stilisiert haben. Fesselte ihn dessen radikaler Ästhetizismus – die Verbindung von Schönheit, Gewalt und ritueller Selbstvernichtung? Oder war es der existentielle Nihilismus, das tiefe Unbehagen an der modernen Welt, das ihn in Mishima ein Echo eigener innerer Konflikte sehen ließ? Vielleicht lag Bowies Faszination gerade in dieser Ambivalenz: in der gleichzeitigen Bewunderung für die formale Konsequenz von Mishimas Lebensentwurf und der Verstörung über seine politische Radikalität.
(1)
Stella Hsieh: „Ziggy Stardust in Exile in LA: Ryuichi Sakamoto Interviews David Bowie“, in: Between Thought and Expression, 26. Februar 2021, online unter: https://lysisme.art.blog/2021/02/26/ziggy-stardust-in-exile-in-la-ryuichi-sakamoto-interviews-david-bowie/ [zuletzt abgerufen am 31. Mai 2025].
(2)
Henry Scott-Stokes, The Life and Death of Yukio Mishima, New York: Farrar, Straus and Giroux, 1974, S. 285.
(3)
Scott-Stokes schreibt in “The Life and Death of Yukio Mishima”, dass der Liebes-Doppelselbstmord (shinjū) im Kabuki-Theater des 17. Jahrhunderts als dramatisches Motiv populär wurde. Homosexuelle Varianten dieses Rituals seien historisch jedoch selten belegt; eine Ausnahme bilde der Fall des Generals Takamori Saigō im 19. Jahrhundert, bei dem nur sein Geliebter ums Leben kam. Vgl., Scott Stokes, The Life and Death of Yukio Mishima, S. 302.
(4)
Philip Williams: „French activist shoots himself in Notre Dame cathedral in gay marriage protest“, in: ABC News, 21. Mai 2013, online unter: https://www.abc.net.au/news/2013-05-22/anti-gay-marriage-activist-kills-himself-on-notre-dame-altar/4704872 [zuletzt abgerufen am 31. Mai 2025] und Gavin Walker: „The Political Afterlives of Yukio Mishima, Japan’s Most Controversial Intellectual and Global Icon of the Far Right“, in: Jacobin, 25. November 2020, online unter: https://jacobin.com/2020/11/yukio-mishima-far-right-anniversary-death [zuletzt abgerufen am 31. Mai 2025].
Lodger, David Bowie, 1979 (Privat)
Lodger, David Bowie, 1979 (Privat)
Lodger, David Bowie, 1979 (Privat)
Lodger, David Bowie, 1979 (Privat)
Heat, David Bowie, 1977 (Fotograf unbekannt)
(5)
Lucy Harbron: „The book that inspired David Bowie’s alter ego, ‘The Thin White Duke’“, in: Far Out Magazine, 21. November 2023, online unter: https://faroutmagazine.co.uk/book-inspired-david-bowie-thin-white-duke/ [zuletzt abgerufen am 31. Mai 2025].
(6)
Sarfraz Manzoor: „The year rock found the power to unite“, in: The Guardian, 20. April 2008, online unter: https://www.theguardian.com/music/2008/apr/20/popandrock.race [zuletzt abgerufen am 31. Mai 2025].
(7)
Joseph Pearce: „Nazism & Narcissism: David Bowie’s Flirtation with Fascism“, in: The Imaginative Conservative, 19. Februar 2016, online unter: https://theimaginativeconservative.org/2016/02/nazism-and-narcissism-david-bowie-flirtation-with-fascism.html [zuletzt abgerufen am 31. Mai 2025].
(8)
„David Bowie arrives at Victoria Station, London“, in: The Bowie Bible, 2. Mai 1976, online unter: https://www.bowiebible.com/1976/05/02/david-bowie-victoria-station-london-salute/ [zuletzt abgerufen am 31. Mai 2025].
(9)
Philip Hoare: „It wasn’t just the Queen – pop music borrowed Nazi symbols too“, in: The Guardian, 23. Juli 2015, online unter: https://www.theguardian.com/commentisfree/2015/jul/23/pop-music-nazi-symbols-art-queen-fascist [zuletzt abgerufen am 31. Mai 2025].
(10)
Rob Hughes: „David Bowie – The Inside Story of The Man Who Fell To Earth“, in: Uncut, 2. April 2015, online unter: https://www.uncut.co.uk/features/david-bowie-the-inside-story-of-the-man-who-fell-to-earth-67591/6/ [zuletzt abgerufen am 31. Mai 2025].
(11)
„David Bowie: ‘Britain could benefit from a fascist leader’“, in: The Bowie Bible, 26. April 1976, online unter: https://www.bowiebible.com/1976/04/26/david-bowie-britain-could-benefit-from-a-fascist-leader/ [zuletzt abgerufen am 31. Mai 2025].
“Yassassin (Lyrics Video)” (aus dem Album “Lodger”) von David Bowie, 1979
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Bowies Zeit in Berlin – der einstigen Hauptstadt des „Dritten Reiches“ und dem früheren politischen, administrativen und symbolischen Zentrum nationalsozialistischer Herrschaft, markierte auch diesen Wendepunkt. Zugleich erinnert München als „Hauptstadt der Bewegung“ daran, dass die nationalsozialistische Macht mehrere bedeutende Zentren besaß. In Berlin begann Bowie, sich von jener zwischen Pop und Punk oszillierenden Fascho-Phase zu distanzieren. Aber an Mishima hielt er fest. Dieser zeigte sich bis zu seinem Tod vom Nationalsozialismus beeindruckt: In seinem 1969 in Tokio uraufgeführten Theaterstück „Mein Freund Hitler” (Waga tomo Hittorā) inszenierte sich Mishima selbst als Hitler. Seine Statements hierzu fielen erstaunlich zurückhaltend und eher ambivalent aus. So betonte er, dass Hitler für ihn kein Held sei. Er gab zu, von ihm zwar fasziniert zu sein, betonte jedoch, ihn weder zu verehren noch mit ihm zu sympathisieren. (12)
Dog-Whistling bezeichnet strategisch vage oder codierte Aussagen, die nach außen harmlos wirken, aber von einem eingeweihten Publikum als Zustimmung zu extremen Positionen verstanden werden. Vor diesem Hintergrund wäre zu prüfen, ob Mishimas betont ambivalente Äußerungen – etwa seine gleichzeitige Faszination für Hitler und sein Bekenntnis, ihn nicht zu verehren – bereits eine frühe Form solchen Dog-Whistlings darstellen. Solange Bowie an Mishima festhielt, wirkte auch seine Distanzierung vom Faschismus – zumindest – zwiespältig.
Auf Bowies letztem Berliner Album, „Lodger“, gibt es einen Track namens „Yassassin“. In deren Refrain singt der Chor: „Look at this - just sun and steel“ – eine Referenz an Mishima. „Sonne und Stahl“ (jap. Taiyō to tetsu, 1965 als Essay, 1968 als Buchfassung) ist der Titel eines von Mishimas Essays, ein zentrales und wiederum recht eindeutiges Dokument seiner intellektueller und körperpolitischer Selbstverortung. Der Text bildet die ideologische Grundlage seiner späteren rechtsnationalen und militaristischen Weltanschauung. In der Tradition faschistischer Ästhetiken verknüpft Mishima darin körperliche Schönheit, Gewalt, Opferbereitschaft und Nation zu einem geschlossenen Weltbild. Bereits hier kündigt sich seine spätere Idealisierung des Märtyrertods und des rituellen Seppuku an: Der Körper, so Mishima, erlange seine höchste Bedeutung erst durch den freiwillig gewählten, bedeutungsvollen Tod – eine Idee, die er 1970 mit seinem gescheiterten Putschversuch und Suizid radikal umsetzte.
Doch der Titel von Bowies Track „Yassassin“ spricht nicht vom Tod. Der Ausdruck ist aus dem Türkischen entlehnt. Das Verb yaşamak heißt „leben“ und kann heute auch „wohnen“ bedeuten. Sein Stamm geht bis ins Proto-Türkische zurück (etwa vor 2000 Jahren), wo yālg- „grün werden, lebendig sein“ meinte. In den Orhon-Inschriften des 8. Jahrhunderts findet man bereits yaša – im Sinn von „leben, sich erholen“. Im Osmanischen Türkisch (15. – 20. Jh.) kam die Bedeutung „wohnen“ dazu, die das moderne Türkisch beibehalten hat. Yaşasın! ist die 3. Person-Imperativform von yaşa. Das bedeutet wörtlich „er/sie/xier/they soll leben!“. Im Türkischen dient dies als Ausruf der Freude oder Zustimmung, ähnlich dem Deutschen „Es lebe …!“ oder einem begeisterten „Hurra!“. Es wird erzählt, Bowie habe das Wort „Yassassin“ als Graffiti in Berlin-Neukölln entdeckt – möglicherweise an einer Hauswand. Davon fasziniert habe er es als zentralen Hook für seinen gleichnamigen Song übernommen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Bowie das türkische Wort in seiner Nachbarschaft oder an einem anderen Ort in Berlin korrekt geschrieben gesehen bzw. gehört hat und es anschließend phonetisch ins Englische übertrug.
Innerhalb des Albums „Lodger“ erfüllt „Yassassin“ eine wichtige konzeptuelle Rolle. Das Album ist thematisch grob zweigeteilt: Seite Eins kreist um Motive des Reisens, Fremdseins und interkulturelle Verflechtung, während Seite Zwei eher Sozialkritik äußert und die westliche Zivilisation ins Visier nimmt. „Yassassin“ bildet den Abschluss der ersten Albumhälfte und fügt sich in das Reisemotiv ein. „Yassassin“ ist ein Abstecher in das migrantische Berlin.
Der Song erzählt von Migration und verbindet das mit Gefühlen des Widerstands, Würde und Verletzlichkeit. Dabei entsteht ein lyrisches Wir, das sich in einer feindlichen Stadt behauptet und eine empathische Sicht auf Arbeitsmigration eröffnet:
We came from the farmlands / To live in the city / We walked proud and lustful / In this resonant world
Die Bewegung vom Land in die Stadt steht stellvertretend für viele Lebenswege von Arbeitsmigrant*innen der 1960er- und 1970er-Jahre – etwa vom Dorf in Anatolien in die Großstadt Berlin.
„Yassassin“ hat auch ein lyrisches Ich im Refrain, das vom Chor gesungen wird:
Yassassin - I'm not a moody guy
Yassassin - I walk without a sound
Yassassin - Just a working man, no judge of men
Yassassin - But such a life I've never known
Das lyrische Ich beschreibt sich als einfacher Arbeiter, der nicht urteilt, sondern still und würdevoll seinen Platz einnimmt. „I walk without a sound“ steht für ein Leben in der Unsichtbarkeit. Doch trotz Ausgrenzung bleibt das Ich stolz. Der Refrain zeichnet das Bild eines migrantischen Subjekts – still, angepasst, aber innerlich widerständig.
Am deutlichsten artikuliert sich der Wunsch nach Anerkennung und Zugehörigkeit in diesen Zeilen:
Look at this - no second glances
Look at this - no value of love
Look at this - just sun and steel
Look at this - then look at us
In diesen Zeilen wendet sich das lyrische Ich an eine Außenwelt, die es übergeht oder abwertet: „no second glances“, „no value of love“. Die Mishima-Anspielung „just sun and steel“ erinnert an eine harte, entmenschlichte Existenz. Doch mit „then look at us“ wird aus dem Ich ein Wir – eine kollektive Stimme, die Sichtbarkeit und Anerkennung einfordert. Der Vers verbindet Isolation mit stiller, gemeinsamer Selbstbehauptung.
Trotz der feindlichen Umgebung lehnt das lyrische Ich die Eskalation ab. In den Zeilen
You want to fight / But I don’t want to leave / Or drift away
wird zwar Gewalt angedeutet, doch das Ich entscheidet sich fürs Bleiben – aus dem Wunsch nach Zugehörigkeit und einem Leben jenseits von Entwurzelung.
(12)
Naoki Inose, Persona. A Biography of Yukio Mishima, Berkeley: University of California Press 2012, S. 580.
Turkish Father and Son, David Bowie, 1978 (c David Bowie, Fair Use)
Child in Berlin, David Bowie, ca. 1977 (c David Bowie, Fair Use)
“Neuköln (2017 Remaster)” (aus dem Album “Heroes”) von David Bowie, 1977
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Die Situation der Gastarbeiter*innen aus der Türkei beschäftigte Bowie während seiner Berliner Jahre immer wieder, auch außerhalb seiner musikalischen Praxis: Er porträtierte und fotografierte sie. Neben dem Porträt Yukio Mishimas malte er 1978 auch „Turkish Father and Son“ in erneut expressionistischem Duktus. Zwei versetzt platzierte, sich leicht überlappende Halbfiguren erzeugen vor abstraktem Hintergrund Spannung und Tiefe. Die dominantere Figur – der Vater – zeigt einen rot-violetten Teint, der Sohn einen ockergrünen; beide Hautfarben werden von grauen Hemden abgemildert, deren Einheitlichkeit ihre familiäre Verbundenheit markiert. Außerdem fotografierte er die Kinder der Arbeitsmigrant*innen beim Spielen auf der Straße und porträtierte sie in Gemälden – etwa in „Child in Berlin“ (1977), das ein Kind zeigt, das sich im Treppenhaus an eine Brüstung lehnt.
Zwei Jahre vor „Yassassin“ veröffentlichte er im Album Heroes das Instrumentalstück „Neuköln“ [sic!]. Das Stück ist, wie der Titel bereits klar andeutet, inspiriert von seinen Eindrücken des Stadtteils Neuköllns, in dem viele Arbeitsmigrant*innen und deren Familien lebten. Bowie beschäftigen deren schlechte Lebensbedingungen. „There’s a track on the album called Neuköln [sic!], and that’s the area of Berlin where the Turks are shackled in bad conditions,“ sagt er in einem Interview in einer Musikzeitschrift.(13) Die düstere, bisweilen albtraumhafte Klangwelt des Tracks soll die prekären Lebensumstände der Arbeitsmigrant*innen inszenieren. Bowie verwendet Tonleitern, die bewusst an Musik aus der Türkei erinnern; in der Rezeption wird sogar eine Imitation des Muezzin-Rufs herausgehört.(14)
Empathie und Exotisierung gehen hier eine Allianz ein.
Gerade diese Gleichzeitigkeit von Empathie und Exotisierung erzeugt eine irritierende Spannung: Bowies Blick auf die migrantische Realität wirkt zwar solidarisch, ist jedoch zugleich von Othering-Dynamiken geprägt – und das vor dem Hintergrund seiner offen zur Schau gestellten „Nazi-Phase“ sowie seiner Faszination für den faschistischen Ästheten Mishima. Diese Ambivalenz zwingt dazu, gegenüber „Yassassin“ eine kritische Distanz einzunehmen und die asymmetrischen Machtverhältnisse offenzulegen, die Bowies künstlerische Aneignung migrantischer Erfahrungen durchziehen.
(13)
Allan Jones: „Goodbye to Ziggy and all that“, Melody Maker, 29. Oktober 1977, online auf Bowie Golden Years, http://www.bowiegoldenyears.com/press/77-10-29-melody-maker.html [zuletzt abgerufen am 31. Mai 2025]
(14)
Chris O’Leary: „Neuköln“, in: Pushing Ahead of the Dame, 26. Mai 2011, online unter: https://bowiesongs.wordpress.com/2011/05/26/neukoln/ [zuletzt abgerufen am 31. Mai 2025]
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David Bowie verbindet in „Yassassin“ seine eigene Mobilitätserfahrung als Künstler mit der Lebensrealität von „Gastarbeiter*innen“, die aus ökonomischem Zwang ihre Herkunftsländer verlassen mussten. Doch anders als sie bewegt sich Bowie in einer privilegierten Position, die er sich erst durch seinen Ruhm erarbeitet hat: Als Weltstar kann er nach neuen kreativen Impulsen suchen, mit Identitäten spielen und zwischen kulturellen Rollen wechseln. Während er zwischen der Ästhetisierung des Faschismus und der Pose des Ausgegrenzten changieren kann, müssen die Arbeitsmigrant*innen diskriminierende und rassistische Zuschreibungen abwehren. Sie dürfen nicht frei ihre Selbstbilder entwerfen oder verändern. Es mangelt an einer Öffentlichkeit, die solche komplexen Identitäten überhaupt erst anerkennt.
Dieser überraschende und durchaus etwas schräge Bezug auf die „Gastarbeiter*innen“ ist nicht allein auf Lyrics begrenzt. „Yassassin“ steht exemplarisch für Bowies musikalischen Eklektizismus auf dem Album „Lodger“. Der Song verbindet Reggae-Grooves mit anatolisch klingenden Melodien und einer bewusst stilisierten Vokalperformance. Bowie und Produzent Tony Visconti ließen amerikanische Studiomusiker*innen Reggae-Rhythmen einüben, legten anatolisch inspirierte Klänge darüber – eingespielt von Simon House und anderen –, und erzeugten so eine bewusst künstliche, transkulturelle Klangcollage. Dass Simon House etwa nie zuvor Musik aus der Türkei beschäfigt hatte, macht deutlich: Es ging Bowie nicht um Authentizität, sondern um eine affektive, klanglich-exotisierte Evokation eines migrantischen Anderen. Die musikalische Aneignung eines anatolischen Sounds wird nicht in Zusammenarbeit mit realen Vertreter*innen dieser Musiktradition entwickelt, von denen es einige in der Zeit in Berlin gibt, sondern bleibt ein westliches Fantasieprodukt – eine ästhetische Geste, die zwischen Faszination, Projektion und kultureller Stereotypisierung changiert. Während Bowie seine eigene künstlerische Entwurzelung mit der Realität von „Gastarbeiter*innen“ in Beziehung setzt, bleibt der musikalische Zugriff asymmetrisch. Der exotisierende Klang dient als Marker für Fremdheit, wird aber aus der sicheren Position westlicher Pop- Produktion verarbeitet – ohne die strukturellen Machtverhältnisse zu hinterfragen, die Migration und kulturelle Repräsentation überhaupt erst rahmen.
Bowie macht „Yassassin“ zu einer vielschichtigen Klang-Collage, in der sich seine persönliche Suche nach Identität, Mishimas radikaler Ästhetizismus und die migrantische Erfahrung im West-Berlin der späten 1970er kreuzen – ohne sich je wirklich zu berühren. Das türkische „yaşasın“ ruft zum Leben auf, doch zugleich hallt in der Zeile „just sun and steel“ Mishimas Kult des schönen, geopferten Körpers nach. So legt der Song die Asymmetrie bloß, die Bowies spielerische Aneignung vom realen Prekariat trennt: Seine Gesten der Entwurzelung bleiben reversible Maskeraden, wo migrantische Körper reale Grenzen und soziale Härten erfahren.
„Yassassin“ gerät damit auch zu einer Art Kippfigur in Bowies kompliziertem Umgang mit Faschismus: Der Song ruft zwar ein solidarisches „Es lebe!“ aus der türkeistämmigen Diaspora, doch er ist von jenem Künstler geschrieben, der nur wenige Jahre zuvor mit Hitlergrüßen, Reichs-Devotionalien und der Persona des „Thin White Duke“ provozierte. Indem Bowie in Berlin das türkische Wort „yaşasın“ aufgreift, versucht er, die Pose des faschistischen Dandy hinter sich zu lassen und sich stattdessen auf die Seite der Ausgegrenzten zu schlagen; doch das Echo von Mishimas „Sun and Steel“ – einem Text, der Körperkult, Opfermythos und Nationalismus verklammert – zeigt, wie tief das Faszinosum des radikal Ästhetischen in seinem Werk verwurzelt bleibt.„
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„Yassassin“ verdichtet aber auch eine lautliche Doppelcodierung: Der türkische Ausruf „Yaşasın!“ („Es lebe …!“) wird durch seine Transliteration zugleich zum englischen Homophon „assassin“ (Attentäter).(15) So gerät der Imperativ des Lebens in eine lautpoetische Nachbarschaft zum Imperativ des Tötens. Der Tod bildet auch das Leitmotiv von „Lodger“ in der Gestaltung der LP. Er zeigt sich auf dem Frontcover, wo Bowie als scheinbares Unfallopfer in einem Badezimmer inszeniert ist, und setzt sich im Klappcover fort, das wie ein Bildatlas verschiedene Darstellungen von Leichen vereint, von Filmstills bis zur „Beweinung Christi“ Andrea Mantegnas.
Etwa sieben Monate nach der Veröffentlichung von David Bowies Album „Lodger“ ereignet sich ein politischer Mord in Berlin: Am 5. Januar 1980 wird der Lehrer und frühere „Gastarbeiter“ Celalettin Kesim am Kottbusser Tor von etwa 70 Anhängern der rechtsextremen Grauen Wölfe und islamistischer Fundamentalisten überfallen und tödlich verletzt. Kesim gehörte dem linken Türkenzentrum an, dessen Mitglieder an diesem Tag Flugblätter gegen die drohende Militärdiktatur in der Türkei verteilten – einen Putsch, der acht Monate später tatsächlich folgen sollte. Der Mord verdeutlicht die transnationale Reichweite der Grauen Wölfe, des paramilitärischen Arms der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), die bereits in der Türkei zahlreiche Oppositionelle ermordet hatten und ihre Gewalt nun bis in die deutsche Diaspora trugen.
Nihâl Atsız gilt als einer der wichtigsten ideologischen Wegbereiter der Grauen Wölfe. Der anti-islamische, rassistisch-nationalistische und antisemitische Autor, Historiker und Dichter veröffentlichte 1972 den Roman „Ruh Adam“, der auffällige Parallelen zu Yukio Mishimas Erzählung „Patriotismus“ (1960) zeigt. In „Patriotismus“ (1960) schildert Mishima die letzten Stunden des Leutnants Shinji und seiner Frau Reiko, die nach einem missglückten Militärputsch nicht zwischen Pflicht und Loyalität wählen können und deshalb gemeinsam rituellen Selbstmord begehen. Die Erzählung ist ein konzentriertes Manifest aus soldatischer Ehre, absoluter Kaisertreue und der Idee, dass der Tod für die Nation die höchste Form persönlicher Vollendung darstellt. Nur ein Jahrzehnt später lässt Mishima die Fiktion zu seiner eigenen Realität werden. In beiden Werken endet ein Offizier – Hauptmann Şeref bei Atsız, Leutnant Shinji bei Mishima – aus nationalistischer Überzeugung im Freitod. Atsız und Mishima teilen eine strikt nationalistische Weltsicht.(16) Sie beklagen den Verlust kultureller Identität durch die Verwestlichung und stilisieren Ehre, Opferbereitschaft und soldatische Disziplin zu letzten Bollwerken einer idealisierten Nation. Ob der Nationalismus das eigene Leben opfert oder fremdes Leben fordert: Der Tod/Mord fungiert als höchste Bewährungsprobe nationaler Loyalität.
Vor diesem Hintergrund stellt sich mir die Frage, ob der Ausruf „Yassassin” die Parolen der türkischen ultranationalistischen MHP nachhallt, wie etwa „Yaşasın Türk milleti” („Es lebe die türkische Nation”) oder „Yaşasın tam bağımsız Türkiye” („Es lebe eine vollkommen unabhängige Türkei”). Solche Formulierungen sind Teil einer nationalistischen Rhetorik, die die Einheit und Unabhängigkeit der Türkei betont. Und wenn, hat Bowie auch den Faschismus in der Türkei verharmlost, wie zuvor in Deutschland und Japan?
(15)
Ich danke Derya Akay für diesen Hinweis.
(16)
Vgl.: Karaca Küçük, Şeyma. “Yukio Mishima’nın “Vatanperverlik” Ve H.Nihal Atsız’ın Ruh Adam Adlı Eserlerinde Batılılaşma Krizi.” Türkiyat Mecmuası-Journal of Turkology 33, 2, (2023): 815-838.
Gürsoy Doğtaş ist Kunsthistoriker und arbeitet parakuratorisch an den Schnittpunkten von Institutionskritik, strukturellem Rassismus und Queer Studies.Er (ko-)kuratierte unter anderem die Ausstellungen „There is no there there“ im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt (2024), „Annem işçi –Wer näht die roten Fahnen?“ im Museum Marta Herford in Herford (2024), „Gurbette Kalmak / Bleiben in der Fremde“(2023) im Taxispalais in Innsbruck oder das Festival „What would James Baldwin do?“ (2024) in Berlin wie auch das Symposium „Public Art: Das Recht auf Erinnern und die Realität der Städte“ (2021) in Nürnberg. 2022/23 lehrte er als Gastprofessor am Institut für Kunst im Kontext an der Universität der Künste Berlin und ist seit Herbst 2024 QuiS Visiting Research Fellowship an Städelschule und Goethe Universität in Frankfurt.